Die grösste und detaillierteste Studie zur Armut in den Slums von Kolkata seit 20 Jahren wurde gerade veröffentlicht.

Calcutta Rescue führte 2019 eine Studie durch, um die Slumgebiete, in denen die Organisation arbeitet, besser zu verstehen und um eine Rangliste in Bezug auf den Grad der Entbehrung mit Hilfe bestimmter Indikatoren zu erstellen. Diese Einstufung wird Calcutta Rescue dabei helfen, Prioritäten bei den Ressourcen zu setzen und Interventionen entsprechend den Bedürfnissen der Slumbewohner auszurichten. Die erhobenen Daten liefern auch eine Grundlage, um den Erfolg durchgeführter Massnahmen zu bewerten.

Die Umfrage ist die grösste und detaillierteste Untersuchung dieser Art, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Kolkata durchgeführt wurde.

Nach beinahe fast 1000 Interviews verfügt Calcutta Rescue nun über Informationen zu Gesundheitszustand und -wissen, Bildungsniveau, Lebensstandard, Haushaltszusammensetzung, Beschäftigung und mehr in 23 der Slums, in denen die Organisation arbeitet. Die Studie ergab, dass das Ausmass der Armut in den einzelnen Slumgebieten sehr unterschiedlich ist: Nach ihrer Armutsdefinition war das ärmste Slumgebiet fünfmal ärmer als das am wenigsten arme Slumgebiet!

Foto: CRK

CEO Jaydeep als treibende Kraft

Geschäftsführer Jaydeep Chakraborty ist seit Jahren ein Fan der Arbeit von Abhijit Banerjee und Esther Duflo. Deren Wirtschaftsnobelpreis 2019 hat deutlich gezeigt, wie wichtig systematische, empirische Forschung ist, um die tatsächlichen Bedürfnisse von Gemeinden zu verstehen, anstatt sich nur auf Annahmen und anekdotische Beweise zu verlassen.

Jaydeep sagte: „Diese erste grosse Forschungsarbeit von Calcutta Rescue ist unglaublich wichtig, damit wir intelligente Entscheidungen treffen können.  Bisher haben wir die Daten genutzt, um die Aufnahme von Kindern aus der Gemeinde, die in der Nähe von Lal Mandir auf der Strasse leben, in unser Vorschulprogramm zu erhöhen und ein Programm zur Verhütungsaufklärung in Nimtala zu initiieren. Ausserdem konnten wir so die Gebiete identifizieren, die am dringendsten Toiletten und Wasser benötigen. Aber wir können nicht alles tun. Wir wollen unsere Erkenntnisse mit der Regierung und anderen Organisationen, die sich für die Armutsbekämpfung einsetzen, teilen, damit wir gemeinsam die Bedingungen in den einzelnen Slums verbessern und mehr Möglichkeiten für die dort lebenden Menschen schaffen können.“

Die Durchführung der Umfrage war ein grosses Unterfangen für unsere kleine Hilfsorganisation. Im Einklang mit unserer Tradition, so viel Spendengelder wie möglich für Dienstleistungen an vorderster Front zu verwenden, gelang es uns, Freiwillige für die Durchführung des Projekts zu rekrutieren. 2019 führten sie über einen Zeitraum von viereinhalb Monaten 867 Interviews durch, die bis zu 50 Minuten dauerten. In jedem Slum befragten sie zwischen 30 und 80 Haushalte. Das Team arbeitete unter schwierigsten Bedingungen in den Slums, während der Sommerhitze und des Monsuns.

Ergebnisse im Journal of Poverty and Social Justice veröffentlicht

Maurice Lange aus dem Team erzählt: „Zu koordinieren, in welchen Slum wir gehen würden, wann und wie wir dorthin kommen würden, und das alles bei 40 Grad Hitze, war ein wöchentliches Ereignis. Aber wir haben es geschafft. Wir lernten Flexibilität, Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit im Einsatz.

Das Forschungsteam während einem von 664 Interviews.
Maurice Lange während einem Interview für die grosse multidimensionale Armutsstudie. Foto: CRK

Das Projekt war einmalig auf eine NGO ausgerichtet und darauf, was sie aus den gesammelten Daten herausholen konnte. Ich kann Ihnen jetzt sagen, wie lange die durchschnittliche Person über 50 in jedem Slum zur Schule ging, welche Slums ein Problem mit schlechter Schwangerschaftsvorsorge haben und in welchen Slums die einzige Stromquelle Solarpaneele sind.  Calcutta Rescue kann nicht sofort handeln, um alle Probleme zu lösen, die wir identifiziert haben, aber durch das Sammeln einer solchen Bandbreite an Informationen haben wir sichergestellt, dass wir die notwendigen Informationen haben, um mit denjenigen, die es können, in Kontakt zu treten oder für eine Zukunft zu planen, in der wir handeln können.“

Maurice Lange hat die Ergebnisse der Armutsstudie von Calcutta Rescue im Journal of Poverty and Social Justice veröffentlicht:

Lange, M. (2021) Multidimensional poverty in Kolkata’s slums: towards data driven decision making in a medium-sized NGO, Journal of Poverty and Social Justice, vol 29 no 1, 121–130, DOI:https://doi.org/10.1332/175982720X16034770581665

Einige wichtige Ergebnisse: Gesamtarmutsniveau, Gesundheit, Bildung und Lebensstandard

Das Wissen über gute Gesundheitspraktiken war generell gering, und in einigen Slums hatten fast zwei Drittel der untersuchten Kinder nicht alle empfohlenen Impfungen erhalten. In sieben der Slums hatte kaum jemand Zugang zu sicheren, gemeinsam genutzten sanitären Anlagen. Kinderarbeit ist zum Glück selten, aber die Studie fand heraus, dass viele Kinder aus anderen Gründen nicht zur Schule gingen. Obwohl 70 % der Haushalte über Elektrizität verfügten, stellte die Studie fest, dass in vier der Slums kaum jemand Zugang zu Elektrizität hatte.

Niveaus der multidimensionalen Armut

Wir haben Daten zu 17 Indikatoren verwendet, um für jedes Slumgebiet einen Gesamtwert für den Multidimensionalen Armutsindex (MPI) für „normale“ und „schwere“ Armut zu berechnen. Die Studie ergab, dass das Ausmass der Armut in den einzelnen Slumgebieten sehr unterschiedlich ist: Nach unserer Armutsdefinition war das ärmste Slumgebiet fünfmal ärmer als das am wenigsten arme Slumgebiet.

Die ärmsten Slumgebiete waren Hastings, Canal West Gas Godown, Number 12 Water Tank und Lalmandir. Die am wenigsten armen untersuchten Slums waren Mecchua, Bhangamath und Local Bustee.

Bild: Alan Joan Costa

Bei der „schweren“ Armut war der Unterschied zwischen den ärmsten und den am wenigsten armen Slums sogar noch grösser: Während in Bhangamath, Local Bustee, Kestopur A oder Jheel Park B kein einziger Haushalt den Schwellenwert für schwere Armut erfüllte, wurden 71 % der Haushalte in Hastings und 56 % in Canal West Gas Godown als schwer arm eingestuft.

Im Durchschnitt waren muslimische Haushalte um 50% ärmer als Hindu-Haushalte.

Gesundheit

Während die Unterschiede zwischen den Gesundheitsindikatoren in den einzelnen Slumgebieten im Allgemeinen geringer ausfielen, wurden bei den spezifischen Teilindikatoren einige wichtige Bereiche identifiziert, die von Interesse sind:

Impfungen: Ein Viertel der Haushalte mit kleinen Kindern war mit ihren Impfungen im Rückstand. Dies war besonders deutlich in Nimtala (42%), Tangra (60%) und Lalmandir (62%).

Fettleibigkeit/Adipositas: Wir fanden ein überraschend hohes Mass an Fettleibigkeit. Wir haben hauptsächlich Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren gemessen. Wir fanden heraus, dass 30% aller Befragten fettleibig waren (nach dem südasiatisch angepassten BMI-Grenzwert – 25). Die höchsten Adipositasraten wiesen die Ortsteile Bustee (47%), Jheel Park A (47%) und Bhangamath (48%) auf.

Schwangerenvorsorge: 56% aller Frauen, die in den letzten 5 Jahren ein Kind bekommen hatten, hatten innerhalb der ersten 3 Monate ihrer Schwangerschaft keinen Arzt aufgesucht; in den am stärksten benachteiligten Slumgebieten liegt dieser Anteil bei über 75%. Daraus lässt sich ableiten, dass mindestens die Hälfte der Mütter die alten WHO-Richtlinien von 4 Arztbesuchen vor der Geburt nicht einhalten, und die meisten würden die jetzt empfohlenen 8 nicht schaffen.

Gesundheitswissen: Die Wissensdefizite über moderne Verhütungsmittel (43%), über endemische Krankheiten (65%) und über Hygienepraktiken (51%) waren generell sehr hoch.

Bild: Alan Joan Costa

Bildung & Kinderarbeit

Das Bildungsniveau in den einzelnen Slumgebieten war sehr unterschiedlich, was uns erlaubt, Schwerpunkte zu setzen.

Hastings (56%), Lalmandir (48%), Canal West Gas Godown (35%) und Mayuk Bhavan (35%) weisen die höchste Entbehrung in Bezug auf die Bildung der Kinder auf (mindestens ein Kind zwischen 4 und 16 Jahren geht nicht zur Schule). Diese Gebiete schneiden auch bei der Bildung von Erwachsenen am schlechtesten ab: In 88%, 83%, 77% bzw. 76% der Haushalte gab es nicht mindestens einen Erwachsenen, der seit 8 Jahren zur Schule gegangen war.

Kinderarbeit ist in den meisten Slumgebieten selten und bei weitem nicht in allen Gebieten so weit verbreitet wie der Nichtbesuch der Schule. Tangra (20%) und Canal West Gas Godown (18%) meldeten den höchsten Anteil an Haushalten, in denen ein Kind unter 14 Jahren einer bezahlten Arbeit nachging.

Foto: Alan Joan Costa

Lebensstandard

Bei allen Indikatoren für den Lebensstandard gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Slumgebieten, obwohl bei einigen Indikatoren (z.B. Zugang zu Wasser und Elektrizität) nur einige wenige Slums mehrheitlich benachteiligt sind, während bei anderen Indikatoren die meisten Haushalte in den meisten Slumgebieten benachteiligt sind (z.B. Wohnmaterial und Wohnsicherheit).

Zugang zu Wasser: Der Zugang ist im Allgemeinen gut – 4/5 der Haushalte berichteten, dass sie innerhalb von 30 Minuten Wasser aus einer Quelle holen können, die mehr als 2 Stunden pro Tag zur Verfügung steht. Mehrere Slums, darunter Number 12 Water Tank (62%), Bharanagar (52%), Kestopur B (50%) und Canal West Gas Godown (44%), wiesen jedoch eine erhebliche Entbehrung beim Wasserzugang auf.

Sanitäre Einrichtungen: Slumgebiete neigten dazu, bei diesem Indikator entweder überwiegend depriviert oder überwiegend nicht depriviert zu sein. In Canal West Gas Godown, Canal East Fire Station, Kestopur B, Hastings, Anandopur und Bagbazar nutzen fast alle Haushalte nicht einmal „begrenzte“ (verbesserte, aber von mehreren Haushalten gemeinsam genutzte) sanitäre Einrichtungen. 

Kochbrennstoffe: 50% der Haushalte gaben an, die meiste Zeit mit Holz zu kochen. In Canal West Gas Godown, Canal East Fire Station, Hastings, Garden Reach und Kestopur B gaben über 80% der Haushalte an, die meiste Zeit mit Holz zu kochen.

Elektrizität: 70 % der Haushalte gaben an, Zugang zu Elektrizität von angemessener Qualität zu haben, auch wenn diese in den meisten Fällen illegal bezogen wurde. Einige Slums hatten jedoch fast durchgängig keinen Zugang zu Elektrizität: Number 12 Water Tank (80%), Mayuk Bhavan (94%), Kestopur B (95%) und Hastings (89%).

Wohnsicherheit: Fast alle Haushalte in allen Slumgebieten fürchten eine Zwangsräumung, was angesichts der Prekarität ihres rechtlichen Status und ihrer physischen Lage nicht überrascht. Weitaus geringere Raten der Angst vor Zwangsräumung sind in Local Bustee (31%) und Mecchua (21%) zu beobachten – beides sind registrierte Slumgebiete, in denen die Mehrheit der Haushalte (88% bzw. 93%) ihre Wohnungen mieten.

Foto: Alan Joan Costa

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