Ich höre den 34-jährigen Jitu kurz wimmern, als Alex H., die freiwillige Physiotherapeutin aus Deutschland, sein linkes Bein aufhebt und beginnt, die Seite des Knies zu massieren. Sie beobachtet sein Gesicht, obwohl auch ein Dolmetscher im winzigen Zimmer ist. Der Raum ist gleich neben der Nimtala- Klinik und an zwei Vormittagen in der Woche finden hier Physiotherapie-Behandlungen statt. Der Dolmetscher erklärt Jitu im Detail, was Alex macht, und gibt ihr wertvolle Rückmeldung, wie es sich für ihn anfühlt.
Sean Duggan ist langjähriges Mitglied der englischen Unterstützungsgruppe von Calcutta Rescue und Journalist. Er besucht die Projekte von Calcutta Rescue regelmässig und schreibt eine Serie von bewegenden Geschichten unter dem Stichwort „Mein Zeugnis“ („I witness“). Hier ist erzählt er von der Physiotherapie mit Alex einer Freiwilligen.
Als Jitu etwa zwei Jahre alt war, wurde er von einem dreirädrigen Fahrzeug auf einer Strasse in der Nähe angefahren. Sein linker Fuss wurde dabei komplett überfahren. Er wurde ins Spital gebracht und von Kopf bis Fuss eingegipst. Es scheint, als ob er mehrere Jahre in einem Ganzkörpergips verbringen musste. Jitu kann sich aber an die genauen Daten nicht erinnern. Trotz dieser Behandlung, oder wahrscheinlicher noch wegen der Behandlung, hat Jitu nun ein Bein, welches sich nach aussen beugt, und sein anderes Bein ist deswegen schief ausgerichtet. Er lebt mit konstanten Schmerzen und erhält erst jetzt mit der Physiotherapie von Calcutta Rescue eine Behandlung.

Alex glaubt, dass durch ihre Arbeit die Schmerzen zu 25% reduziert werden können, aber nicht mehr. Jitu verdient 140 indische Rupien (2 CHF) pro Tag. Er arbeitet als Abfallsammler an sechs Tagen pro Woche, um seine Frau und zwei Kinder zu ernähren. Dafür muss er jeden Morgen stundenlange schwere körperliche Arbeit verrichten. Dies ist kaum zu glauben, denkt man an seine körperliche Behinderung. Natürlich führt diese auch zu einer fortschreitenden Schädigung seiner schiefen Beine. Jitus grösste Sorge im Moment ist, dass er seine Füsse nicht spüren kann, wenn er aufwacht, und er eine Weile warten muss, bevor er aufstehen kann. Am Ende der Physiotherapie verspricht Alex ihm, einen neuen Tennisball zu organisieren, damit er sich zwischen den Behandlungen damit massieren kann. Den letzten Ball hat er so oft gebraucht, dass er auseinandergefallen ist.
Ich frage Jitu, ob ich ihn nach Hause in den Slum am Bahngleis hinter der Klinik begleiten darf. Er stimmt zu. Dort angekommen treffe ich seine reizende Frau Laxmi. Die beiden erklären, dass ihre Heirat eine Liebesheirat war. Die Liebe zwischen ihnen ist deutlich spürbar. Ihr Sohn, der zehn Jahre alt ist, geht in die Schule Nr. 10 von Calcutta Rescue. Er lernt lesen und schreiben, wozu weder Jitu noch Laxmi die Chance hatten. Jitu kann aber seinen eigenen Namen schreiben.
Die Ein-Zimmer-Slumwohnung, in der sie leben, ist winzig und die Haustür ist nur etwa 1.8 Meter vom tödlichen Bahngleis entfernt, ich habe es ausgemessen. Immer wieder donnert ein Zug vorbei. Alle, die dort leben, müssen im Kopf haben, wann der nächste Zug kommt, um sicherzustellen, dass ihre Kinder sicher im Haus sind.
Ich frage, wie es hier ist, wenn der Monsun kommt. Sie sagen, dass das Dach durchlässig ist und das Wasser den tief gesunkenen Boden überflutet. Dennoch ist es überraschend sauber und aufgeräumt – das Ehepaar ist sichtbar stolz auf sein Heim. Während ich den von Sankar zubereiteten Tee aus einer kleinen Lehmtasse trinke und an einem Keks knabbere, frage ich die beiden, welche Ambitionen sie für ihre Kinder haben. Ein merkwürdiger Ausdruck erscheint auf Jitus Gesicht. Als er fertig gesprochen hat, übersetzt mir der Dolmetscher, sie wünschten sich, dass die Kinder Arzt oder Lehrer werden, wüssten aber, dass das nie geschehen wird. Ich erzähle ihnen von Subho, der in ähnliche Umstände aufwuchs. Seiner Eltern waren Analphabeten, sein Vater war Alkoholiker. Nun ist er ein inspirierender junger Mann mit einem Abschluss in Naturwissenschaften und zehn Jahren Erfahrung als Lehrer, welche er als Verantwortlicher für die Tala-Park-Schule von Calcutta Rescue einsetzt.
Plötzlich scheint mir sehr wichtig, dass Jitu und Laxmi wissen, ein solcher Werdegang ist nicht unmöglich. Es kommt mir vor, dass Jitu und seine Frau trotz Jitus Behinderung ihren Kindern ein viel glücklicheres Zuhause bieten können, als es Shubo hatte. Vielleicht wird ihnen dieses Beispiel eine reale Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Träume für ihre Kinder geben, wenn diese fleissig sind und von Calcutta Rescue unterstützt werden.
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